Nachtsicht 2019

Tanz die Angst! Dancing with fear in my eyes

(Markus Keuschnigg, Kurator)

Christoph Schlingensief nannte sie „Angst-Monopolisten“, diejenigen, die von einer politischen Kanzel auf den Einzelnen unablässig herunter predigen, wovor er sich zu fürchten habe. (Migration! Migration! Migration!) „Jeder Mensch hat das Recht auf seinen eigenen Terror!“ lautete als Antwort darauf ein Glaubens-Axiom der von ihm auf der Kunst-Biennale in Venedig 2003 errichteten „Kirche der Angst“; ein Grundsatz, dem sich auch die heurige NachtsichtAuslese verschreibt. Das diffuse Angst-Gewitter in unseren Köpfen und Herzen darf nicht von einigen wenigen zwecks Machterhalt missbraucht werden. Wenn jeder Mensch sich seinen individuellen Terror zurückerobert, ihn umarmt und feiert, ihn „tanzt“, dann beginnt die Revolution.

Den Anfang macht wie so oft das Kino: Fünf unterschiedliche Sichtweisen auf den europäischen Fantastischen Film ergeben ebensoviele Angstwelten. Ein junger Mann mit irakischen Wurzeln wird im Dänemark der sehr nahen Zukunft durch sich häufende rassistische Übergriffe radikalisiert und lässt sich von Angstschürern zum Teenie-Attentäter aufrüsten, in der Hoffnung, das komplexe Problem mit einer einfachen Lösung bewältigen zu können. Ulaa Salims provokantes Spielfilm-Debüt Sons of Denmark ist aus guten Gründen diesjähriger Nachtsicht-Opener, feuert gleich mehrere Fäuste Richtung Magengrube und postuliert allgemeine Verunsicherung als neues pan-europäisches Lebensgefühl.

Auch im ländlichen Irland grassiert die Angst: Eine junge alleinerziehende Mutter entfremdet sich immer weiter von ihrem kleinen Sohn, nachdem der Schritt für Schritt wesensverändert erscheint. Wenn das, was uns vertraut ist, plötzlich fremd wird, hilft kein Weglaufen oder Durchdrehen, dann muss man allen Mut zusammenkratzen, seine Angst kontrollieren und sich dem Grund stellen: Das ist im Fall dieses exzellenten Horrorthrillers das titelgebende Hole In The Ground.

Was aber, wenn keine Anderen mehr bleiben, vor denen man sich fürchten kann? Was, wenn man in absoluter Isolation ohne Hilfestellung und unter widrigsten Umständen ums Überleben kämpfen muss? In Joe Pennas (beinahe) wortlosem Survival-Drama Arctic ist ein abgestürzter Mads Mikkelsen in der Eiswüste auf sich allein gestellt: neunzig Minuten filmische Extremerfahrung in einem außergewöhnlichen Beispiel von zeitgenössischem Cinéma pur.

Die Antipode dazu brettert als Neon-Giallo um die Kurve, der seine Markenzeichen bereits im Titel führt: Un couteau dans le coeur des unverschämt talentierten Jungfranzosen Yann Gonzalez taucht ab in die Pariser Schwulenporno-Szene der späten Siebzigerjahre, wo Vanessa Paradis als Erfolgsregisseurin jenen Serienmörder jagt, der ihre Darsteller-Riege dezimiert, und die grausame Wirklichkeit zugleich als Stoff für ihre nächsten Produktionen verwendet.

Und dann ist da noch dieses Kinderlied, welches sich in Johannes Nyholms Albtraum Koko-di Koko-da ganz tief in die Seele seiner Figuren (und des Publikums) frisst: Aus dem dunklen Wald kriechen groteske Finsterlinge, tanzend, lachend, mordend und immer wieder singend. Jede Flucht führt Richtung Tod, erst die Auseinandersetzung mit der grausamen Wirklichkeit bringt Linderung, birgt den Keim fürs Weiterleben. Für diesen Film gilt wie für das gesamte Nachtsicht-Programm (und zwecks allgemeiner Weltverbesserung): Lauf nicht davon. Bleib stehen. Dreh dich um. Schau ihr in die Augen und dann Tanz die Angst!

 

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