Nachtsicht 2018

Im Würgegriff des guten Geschmacks

(Markus Keuschnigg, Kurator)

Wenn Kino sich nach allen Seiten hin austariert, wut- und mutlos eine wohlmeinende Mitte des guten Geschmacks und der Moral abliefert, dann ist es ein Stück weit zum Glücksspender für StatistikerInnen geworden, die darüber Buch führen und Boni und Mali vergeben. Der Fantastische Film, oft unmäßig und ausfällig, ist Albtraum von BürokratInnen, die Ecken lieber abschleifen als sie zuzuspitzen, denn es könnte ja etwas hängen bleiben. Die heurige Nachtsicht ist insofern stolz darauf, das (im besten Sinn) Abartige und Schmerzhafte siegen zu lassen und in fünf mehr oder weniger gefährliche Vorstellungswelten zu entführen.

Der Nachtsicht-Opener The Cured entspinnt eine zeitgeistige politische Allegorie, in der durch ein Wundermittel „geheilte“ Ex-Zombies von den Nicht-Infizierten zu rechtlosen Untermenschen degradiert werden: ein schauerliches Update zur ewigen Horrorfilm-Weisheit, dass das Monster oft menschlicher und der Mensch oft monströser ist, als man glauben möchte.

In Bertrand Mandicos Les garçons sauvages probt eine Lehrerin Shakespeare am Strand und wird von ihren Schülern angegriffen, überwältigt, vergewaltigt. Strafversetzt auf eine tropische Insel verlieren die Burschen ihre Potenz und werden von der empfindungsfähigen Pflanzenwelt so lange beschleimt, bis ihnen die Schwänze abfallen.

Radikale Triebumkehr beflügelt die Hauptfigur in Coralie Fargeats Revenge: Nach Misshandlung und finaler Pfählung durch drei Aggressoren kauterisiert sie ihre klaffenden Wunden im Schutz einer Höhle und macht sich auf, die männlichen Körper mit allen verfügbaren Waffen zu penetrieren und zu zerstören. Aus den (vermeintlichen) Jägern werden die Gejagten, auch in Benjamin Barfoots vergnügtem Double Date: Zwei Männer suchen das Eine und finden das Andere in Gestalt eines Schwestern-Duos, das die MDMA-geschwängerten Typen im übertragenen Sinn an den Eiern packt und sie in ein finsteres Anwesen lockt, wo in einem okkulten Ritual zwar wiederum Körpersäfte fließen, bloß nicht die ersehnten.

Zum radikalsten Schlag gegen Vernunftgesteuerte holt in diesem Jahrgang wohl der junge Türke Can Evrenol aus: Schon sein umjubeltes Langfilmdebüt Baskin entführte Polizeibeamte in eine mythische Höllen-Landschaft, wo ihnen ein zwergenhafter Dämon die Eingeweide aus der Bauchdecke zog, ganz langsam natürlich. In Housewife bricht das Irrationale angemessen ungestüm in das Leben eines wohlhabenden Paars herein, das erlebte Kindheitstraumata ganz hinten im Seelenpalast eingesperrt hat. Nachdem ein Sekten-Guru durch ihre Träume surft, entleert sich ein Miasma ungelebter Freiheiten und apokalyptischer Visionen auf die Leinwand, bis die Tentakel am Himmel tanzen. Mit offenem Mund blickt man hoch und weiß wieder, weshalb das Kino gefährlich bleiben muss, wieso es nie gänzlich erobert werden darf von den StatistikerInnen.

1757 schreibt der Philosoph Edmund Burke dazu: „Alles, was auf irgendeine Weise geeignet ist, die Ideen von Schmerz und Gefahr zu erregen, das heißt alles, was irgendwie schrecklich ist oder mit schrecklichen Objekten in Beziehung steht oder in einer der Schrecken ähnlichen Weise wirkt, ist eine Quelle des Erhabenen; das heißt, es ist dasjenige was die stärkste Bewegung hervorbringt, die zu fühlen das Gemüt fähig ist. Ich sage, die stärkste Bewegung: Denn ich bin überzeugt, dass die Ideen des Schmerzes weit mächtiger sind als diejenigen, die auf der Seite des Vergnügens stehen.“

 

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