Nachtsicht 2015

Offene Wunden

(Markus Keuschnigg, Kurator)

Die Pegida marschiert, der IS massakriert, schmeißt Homosexuelle von Hausdächern. Wozu überhaupt noch Horror im Kino? Ein Argument, das immer wieder auftaucht. Ein Totschlagargument.

Der Horrorfilm existiert wie andere Kunst- und Erzählformen auch jenseits der Wirklichkeit: In ihm lassen sich Fantasien aus- und durchspielen. Die besänftigenden ebenso wie die beunruhigenden. Die Konsequenzen sind überschaubar, die Angst wird zur Lust, zur Sucht, zur Produktivkraft. Das Horrorkino saugt sich damit an, bis es platzt, zumeist im Kopf des Zuschauers. Die „Nachtsicht“ zeigt diesmal vier beunruhigende Filme, den Überraschungsfilm mal außen vor gelassen. Einige davon reizen die Grenzen des Erträglichen aus, sind im positiven Sinne Zumutungen. Visionen und Geschichten, die auch beleidigen können, vielleicht sogar sollen, es vermutlich müssen. Bei der Weltpremiere von German Angst beim Filmfestival von Rotterdam, weithin geschätzt für seine Nähe zum extremen Film und gemeinhin mit einem offenen Publikum gesegnet, brüllte ein Mann mitten im Film ein lautstarkes „Fuck you!“ gen Leinwand und stürmte wütend aus dem Kinosaal. Ein positives Zeichen, nicht zuletzt für das fantastische Kino aus Deutschland.

Zwischen den Myriaden an polierten Förderfilmen für das neue Biedermeierpublikum hockt jetzt ein Schreckgespenst, erträumt von Andreas Marschall, Michal Kosakowski und Underground-Legende Jörg Buttgereit. Aber nicht nur das: Das Horrorkino feiert das Verbotene und Verdorbene, die Sexualität und die Körper, die heilen wie die aufgerissenen. Die Möglichkeit zu haben, sich in diesem triebhaften Universum zu verlieren, ist essenziell: überall die Masken der Prüderie, überall das politisch korrekte Achselzucken, überall das Reine, Saubere und Gesunde. Alles bio, ja natürlich, rückstandslos abbaubar sowieso und außerdem erneuerbar, hoffentlich kein Rauch hier, sonst komm ich gar nicht rein, und bitte nur so viel trinken, wie man verträgt, wo käme man denn sonst hin? Irgendwo sitzt er dann noch, der Mensch mit seinen Fehlern und Ängsten, die er nicht mehr haben soll, denn sie machen ihn doch unproduktiv.

Die „Nachtsicht“ soll und muss, wie in den Vorjahren auch, ein Gefäß sein für das Irrationale. Wir treffen Ungeheuer im Wald, sehen Kindern beim Sterben zu. Nazis schlagen Babys tot, ein Lehrer liebt einen Schüler, ein Hammer trifft auf einen Kopf. Es geht gar nicht darum, das alles gut und toll zu finden. Wenn Filme so tief ins Hirn schneiden, bleiben Verletzungen zurück. Hoffentlich, denn Wunden lassen einen spüren, dass man lebt. Dass nicht alles egal ist. Dass man den Schmerz vielleicht sogar mag. Und ihn wieder sucht. Natürlich in der „Nachtsicht“. Wo sonst?

 

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