Nachtsicht 2014

Jenseits von Geschmack

(Markus Keuschnigg, Kurator)

Mit der heurigen siebten „Nachtsicht“ werden wir versuchen, den unglücklichen Begriff des Genrekinos durch das treffendere und elegantere Konstrukt „Fantastischer Film“ zu ersetzen. Der Grund dafür ist schnell erklärt und speist sich nicht zuletzt aus verwunderten Zuschauer-Reaktionen der letzten Jahre aufgrund von selektierten Filmen, die eben keinem Genre zuzuordnen, aber sehr wohl „fantastisch“ (im oben erwähnten wie hoffentlich auch im konventionellen Sinn) sind.

Die „Nachtsicht“ versteht sich als betont niederschwellig und inklusiv: Es soll entschieden nicht darum gehen, Erwartungen zu erfüllen, sondern sie zu unterwandern und das Publikum herauszufordern. Etwas Genrekino zu nennen heißt gleichzeitig, eng gesteckte Grenzen zu ziehen: Alles, was nicht eindeutig zuordenbar ist, stellt schon eine Gefahr für das Programmgewebe dar. Der „Fantastische Film“ hingegen zieht weite Kreise: Im Allgemeinen orientiert er sich an der literarischen Kategorie der Fantastik, im Speziellen inkludiert er sämtliche Erzählgattungen und -haltungen, die sich antiveristisch definieren und sich zwar einem Genre verschreiben können, aber nicht müssen. You and the Night von Yann Gonzalez etwa kappt sämtliche Linien zur außerfilmischen und daher wieder erkennbaren Wirklichkeit: Abstraktion, Verfremdung, Überhöhung und Zuspitzung dominieren und definieren diesen blauschwarz und in Neonfarben leuchtenden, sehr nachtschwangeren Film. Klassische Genre-Elemente findet man darin allerdings nicht. Und während das neue Meisterstück von Hélène Cattet und Bruno Forzani (Amer, Nachtsicht 2010) mit dem lyrischen Titel The Strange Colour of your Body’s Tears sich an der europäischen Genrefilm-Kultur der Siebziger-Jahre labt, ist der Film weder Thriller noch Krimi noch Horrorfilm, sondern die avantgardistische Verdichtung einer bestimmten Ä sthetik und Filmgrammatik. Beide Filme gehören zweifelsfrei in die Nachtsicht, weil sie vollkommen fantastisch sind. In der Loslösung des Fantastischen Films aus dem Ghetto des Genre-Kinos schlummert freilich eine Hoffnung: dass nämlich dadurch der leidige Antagonismus zwischen Kunst und Kommerz, zwischen Autorenund Gebrauchskino zumindest ein wenig destabilisiert wird. Denn zum Fantastischen Film gehören viele Werke Jean-Luc Godards ebenso wie das räudige Genrekino Lucio Fulcis und das somnambul-erotische, kunstvollgrausame Universum eines Jean Rollin. Die Nachtsicht will und muss dazu beitragen, dass sich das Kino befreit von bürokratischen Zuschreibungen und Distinktionsdünkeln, dass es aufhört, „gut“ oder „schlecht“ zu sein, sondern angenommen wird als das, was es ist: Ultrakunst, die in ihrer Vielfalt auf keinen Nenner zu bringen ist, und die jedenfalls nicht von spießigen Verwaltern kategorisiert werden sollte. Wir hoffen, dass auch die heurige Nachtsicht- Selektion in all ihrer Widersprüchlichkeit, Unvernunft und Gefährlichkeit wieder zeigen kann: E s geht nicht darum, „good taste“ oder „bad taste“ zu beweisen. Es geht darum, jenseits von Geschmack zu sein, mitten im „Fantastischen Film“.

 

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