Nachtsicht 2013

Wider die Wirklichkeit

(Markus Keuschnigg, Kurator)

Um es im Jargon der digitalen Direktdemokratie zu formulieren: Die fotorealistische Folterpornografie ist abgewählt worden. Darunter setzen wir ein „Like“ und ein #awesome. Aber ganz im Ernst: Die europäische Fantastik gibt sich aktuell so unbedingt schauerromantisch und surreal wie selten zuvor. Pädagogisch wertvoll führt das einer der aufregendsten und wildesten Kompilationsfilme des letzten Jahrzehnts vor.

Mit The ABC’s of Death buchstabieren die jungen Wilden des internationalen Genrekinos ihre Paradedisziplin, das Sterben im Film, neu durch und geben eine so klare wie delirierende Ahnung davon, wohin sich die Fantastik im nächsten Jahrzehnt bewegen wird. Das Publikum erlebt in den 26 Miniaturen ein Stakkato an Todesarten, ausformuliert in allen Farb- und Formensprachen, die das Kino zu bieten hat. Die Belgier Hélène Cattet und Bruno Forzani fahren mit O is for Orgasm eine sensorische Generalattacke mitten ins Zuschauerhirn, und liefern damit außerdem einen Nachsatz zu ihrem Aufsehen erregenden Debüt Amer (Nachtsicht 2010). Der Däne Thomas Cappelen Malling inszeniert mit H is for Hydro-Elect ric Diffusion einen Realfilm- Cartoon irgendwo zwischen Tex Avery und Nazisploitation, während sein Landsmann Anders Morgenthaler in K is for Klut z den Kampf zwischen einer Frau und einer Kloschüssel animiert. E ine dadaistische Hirnwindungsmassage verspricht auch der Franzose Quentin Dupieux aka Mr. Oizo (Rubb er) in Wrong: Filmsyntaktische Axiome elegant umschiffend, wirft er sein eigenes Ideen-Universum einmal quer durch den Bildraum. Palmen verwandeln sich in Tannenbäume, ein E xtrem-Jogger entpuppt sich als New Age-Kultist und mittendrin sucht ein Mann verzweifelt nach seinem Hund. Von diesem Hort des höheren Unsinns aus ist es auch gar nicht mehr weit bis nach Hellfjord: Die Chef- Oberen der norwegischen Kino-Fantastik, darunter Roar Uthaug (Cold Prey) und Tommy Wirkola (Dead Snow) schicken einen Polizisten in die Titel gebende Landgemeinde, um mysteriöse Vorkommnisse zu untersuchen. Das E rgebnis ist eine hochkarätig irrsinnige Fernsehserie in sieben Episoden, atmosphärisch angesiedelt irgendwo zwischen Twin Peaks und Hot Fuzz. Ins Königreich psychosexueller Wahnvorstellungen entführt schließlich noch die litauische Regisseurin Kristina Buožytė: Ihr außergewöhnlicher und international preisgekrönter Science-Fiction-Film Aurora lässt einen jungen Forscher durch die mentalen Welten einer Koma-Patientin waten. Konventionelle Ideen von Wirklichkeit finden im diesjährigen Nachtsicht-Programm keinen Platz mehr: Die selektierten Filme überantworten sich allesamt einer tieferen Wahrheit, die irgendwo zwischen den Bildern klemmt. E iner Wahrheit, wie sie nur das Kino kennen kann, wie man sie nur im Kino erfahren kann. Dort, wo Sinnlichkeit mehr zählt als Sinn, wo die Vernunft den Kürzeren zieht.

 

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