Nachtsicht 2010

Der Lohn der Angst: die Nachtsicht 2010

(Markus Keuschnigg, Kurator)

„Der tägliche und phantasievolle Umgang mit Blut, anderen Körperflüssigkeiten und ab und zu nackter Schönheit hatte ja immer schon eine inspirierendere Wirkung auf Regisseure als das Zentnergewicht schwerwiegender Themen.“
Dominik Graf; Schläft ein Lied in allen Dingen

Das kalte, eisige Licht des kleinen Röhrenfernsehers, auf einem wackeligen Sperrholztisch stehend, erhellt das Souterrain- Zimmer. Die Bettdecke liegt auf meinem Nasenrücken: Jederzeit kann ich sie über die Augen ziehen, um zu verhindern, dass die Monster und Mörder in meinen Kopf kriechen. Ich empfinde Geborgenheit und Angst gleichzeitig, meine Jugend habe ich als widersprüchlich in Erinnerung. In diesem Raum entsteht meine Leidenschaft für „das grausliche Zeugs“, wie es meine Mutter bis heute nennt und dabei den Kopf schüttelt. Ich bin ein Kind der Achtziger, ein Kind aus der Videotheken-Generation: Jedes Wochenende hole ich mir vier Filme, trage sie zeremoniell nach Hause. Die Textur der Hülle, das Geräusch der Kassette, wenn ich sie in das Gerät schiebe, bringen meine Hände zum Schwitzen vor lauter Angstlust. Immer wieder spule ich zurück, starte den Horror ganz von vorne, wiege mich in Sicherheit. Das, was ich heute in meinen Texten zwecks Allgemeinverständlichkeit „Genrekino“ nennen muss, ist mein ältester Freund: ein Kompagnon und Kamerad, zu dem ich immer wieder zurückkehren werde.

Genre meint Gattung meint auch im Kino ein Set von gestalterischen und narrativen Mitteln, um beim Publikum die erwünschten Gefühle ausbrechen zu lassen: ein Gefängnis, meinen die Einen. Ein Gefängnis, in dem alles möglich ist, meinen die Anderen. Sie haben Recht, Beweisstücke finden sich im heurigen Nachtsicht-Programm zuhauf. Ein irrlichternder Reigen, komponiert aus Leidenschaften, für den Film, für das Leben. Es wäre noch mindestens ein Buch zu schreiben über die Rezeption Jean-Pierre Melvilles im Fernen Osten: Die Gauner des französischen Ausnahmeregisseurs und dessen bildgewaltige Inszenierung befruchten etwa die Fantasie von John Woo, der mit The Killer (1989) jenen Ost- West-Kulturtransfer weiterführt, den Melville 1967 mit Le Samouraï gestartet hat. Aus heutiger Perspektive ergänzen sich die beiden Filme, die produktionsgeschichtlich vollkommen unabhängig voneinander entstanden sind, als wären sie füreinander gemacht: Die Mühelosigkeit, mit der die enigmatische Zentralfigur des Samurai/Killer die Jahrzehnte (es sind 22 Jahre!) und die Kontinente hinter sich lässt, ohne auf der Leinwand auch nur ein Stückweit zu vergehen, belegt die Macht des Genre-Kinos. 2009 dreht Hong Kong-Regisseur Johnnie To Vengeance (Eröffnungsfilm der Nachtsicht 2010) als offensichtliche Ehrerbietung an Melville, den Samurai, die Killer: Statt Alain Delon (der eigentlich für die Hauptrolle vorgesehen war) steht bei ihm Frankreichs Edel-Rocker, der in totaler Würde gealterte Johnny Hallyday, mit steinerner Miene und stechenden Augen im Kugel-Gewitter. Als Ex- Profikiller und nunmehriger Haubenkoch geht er auf einen Rachefeldzug, To inszeniert ihn in opernartig aufgezogenen Action-Choreografien, kreiert einen existenzialistisch unterfütterten Gangsterfilm, der gleichzeitig vergangen, gegenwärtig und zukünftig ist. Alle kehren sie zurück in die Keller ihrer Kindheit, in den warmen Schoß des Genrekinos: Amer nennen die Langfilm-Debütanten Bruno Forzani und Hélène Cattet ihre in allen Farben der Lust leuchtende Ode an den Giallo. Gemeint sind jene harten Thriller, abgeleitet von den beliebten Schundromanen mit gelbem Einband („giallo“ ist das italienische Wort für „gelb“), die in den Sechzigern und Siebzigern die italienische Produktionslandschaft entscheidend mitprägten. Den ersten dreht Mario Bava 1963 und nennt ihn La ragazza che sapeva troppo, wörtlich übersetzt: Das Mädchen, das zu viel wusste. Ein solches geistert auch in Amer durch die von Forzani und Cattet meisterlich wieder erbauten Trauma-Landschaften, reift zur Frau heran, wird verfolgt von einem Mörder mit schwarzen Lederhandschuhen. Trieblust, Angstlust. Die Katalanen Jaume Balagueró und Paco Plaza kehren mit [REC]2 zurück in ihr Spukhaus, Werner Herzogs Unruhe-Drama My Son, my Son, what have ye done? zerrt das Horror-Genre durch seinen persönlichen Obsessions-Sumpf und der Überraschungsfilm renoviert eine tot geblödelte Gattung mit Blut & Beuschel, setzt schließlich an zur Transzendenz.

Die Nachtsicht 2010 beweist die Kraft dieser vermeintlichen Gefängnisse: Gauner, Spukhäuser, Wikinger und Skalpellmörder, Geister der Vergangenheit, radikal gegenwärtig. Im Genrekino erzählt man sich alle Geschichten der Welt, gewaltiger, wilder und intelligenter als das die meisten Kunst- Bomber zustande bringen. Diesen Filmemachern gegenüber verspüre ich eine tiefe Verbundenheit: Weil sie irgendwann einmal wie ich in einem Zimmer (oder sonst wo) unter der Bettdecke (oder in einem anderen Versteck) gekauert sind und die ganze Macht des Kinos gespürt haben.

„Ich will den Mord besingen, da ich die Mörder liebe. Ihn besingen ohne Schminke. Ohne etwa zu behaupten, ich wolle mit seiner Hilfe meine Erlösung erreichen, obwohl ich mich nach ihr sehne – möchte ich töten.“
Jean Genet (Poet & Häftling) in „Notre Dames des Fleurs“

Filme der Sektion: