Nachtsicht 2008

Slashing Europe

(Markus Keuschnigg, Kurator)

„Die Gesichter der Angst“: So hat der österreichische Tausendsassa Herbert Holba seine Kampfschrift zum italienischen Genre-Maestro Mario Bava überschrieben, die in der zweiten Ausgabe des von ihm mit begründeten Filmmagazins ACTION im Jahr 1965 erschienen ist. „Die Gesichter der Angst“: So ist die erste Aufbäumung von Genrefilmen innerhalb des Crossing Europe-Programms zu überschreiben, womit auch gleich eine Positionsbeziehung einhergehen soll. Die Nachtsicht versammelt 2008 Beispiele des ausufernden Films: Ihre inszenatorische Vielgestaltigkeit verbeugt sich vor dem mäandernden Werkkörper Bavas. Ihre Platzierung inmitten von weniger populärkulturellen Gangarten des Films soll eine kritische Auseinandersetzung ermöglichen.

Genre soll hier kein Komplementär zum Auteur sein, also nicht auffüllen und ergänzen, sondern behaupten und beweisen. Das europäische Triebbild ist in seiner Nachkriegsausprägung vielfach mutiert: von den Orgien zwischen Sandalenfilm, Spaghettiwestern und Giallo (Italo- Thriller) in den Sechzigern und Siebzigern über die im Angesicht des Blockbusters und der VHS-Kultur produzierten Effektschocker der Achtziger hin zur heutigen Genre-Produktionslandschaft, die sich analog und digital gegen Westen (USA) und Osten (Asien) gleichsam in Stellung bringen muss.

Die im Genre ausformulierten Urwelten und die darin nach außen gestülpte Gewalt und Grausamkeit sind immanente Bestandteile europäischer Lebensrealitäten: Das monströse Transgressionskino des spanischen Genre-Gewaltigen Jes(ú)s Franco mit seinen radikalen Gegenbildentwürfen zu religiöser (Jesús) und staatlicher (Franco) Tyrannei kann heutigen Erzählvorschlägen immer noch den Weg leuchten. Seine Landsmänner Jaume Balagueró und Paco Plaza lassen in ihrem hysterischen Handkamera-Horrorhauptwerk [Rec] die Elendsversprechungen des Fernsehens mit der Entmündigung des Individuums in einem spanischen Wohnhaus zusammen rinnen. Katalonien und das dort ansässige Unternehmen Filmax markieren überhaupt ein Epizentrum des europäischen Genrefilms; im Küstendorf Sitges ist auch eines der größten und wichtigsten Festivals des fantastischen Films angesiedelt. Beim Durchsurfen des dortigen Programms wird klar, dass die Malaise weniger in der Herstellung als in der Verbreitung liegt: Das populäre Kino ist dem Populus weitgehend entzogen. Einzig nationale Kassenschlager (etwa auch [Rec]) und die von US-Großstudios gekauften oder finanzierten Produktionen schaffen es in die europäischen Kinos, dann aber zumeist nur in synchronisierten (und somit für die avisierte oder eher imaginierte Zielgruppe der pubertären Buben tauglichen) Sprachfassungen.

Und es bewegt sich doch etwas: Produktionen wie In 3 Tagen bist du tot aus Österreich oder Fritt vilt aus Norwegen transferieren das Slasher-Narrativ in regionale Zusammenhänge und Frankreich hat in den letzten Jahren einen regelrechten Horrorfilm-Boom erlebt. Regisseure wie Alexandre Aja (Haute Tension) oder Xavier Gens (Frontière(s)); in der Nachtsicht 2008) haben sich mit ihren bildgewaltigen Schockern den Weg in die USA geebnet, und auch das Regie-Duo Alexandre Bustillo & Julien Maury, deren À l’intérieur in der Nachtsicht 2008 gezeigt wird, werkelt bereits am internationalen Durchbruch mit einer Neuverfilmung von Clive Barkers Hell raiser. Nach der Eingliederung der Abgewanderten in die US-Filmindustrie gehen regionale Bildausdrücke zwangsläufig verloren: Der europäischen Produktionslandschaft zerbröseln zuhauf talentierte GenreRegisseure zwischen den Fingern, da sie ihnen keine angemessenen Bedingungen bereitstellen kann, freilich auch, da das Phantasma Hollywood immer noch wirkkräftig in Versuchung führt.

Der kanadische Renegaten- Regisseur Bruce LaBruce hat den umgekehrten Weg eingeschlagen: seine schwule Zombie-Variation Otto; or Up with Dead People ist mit nordamerikanischem und europäischem Geld finanziert und in Berlin gedreht worden. Wer nicht schreit, verliert: Im Vergleich zu hysterischen Körperkino-Erlebnissen, wie sie etwa [Rec] oder À l’intérieur anbieten, haben es subtile Genre-Variationen noch einmal schwerer, Aufmerksamkeit zu erregen. Tiago Guedes & Federico Serras Gothic-Prunkstück Coisa Ruim ist nach Gastspielen auf einer Handvoll Festivals in der Versenkung verschwunden.

Die Nachtsicht von Crossing Europe hat es sich zum Ziel gemacht, alljährlich ein Eintauchen in diese vielfältigen Angstgesichter des europäischen Kinos zu ermöglichen, auf dass die hohe Kunst der Überschreitung, die Meisterschaft der Action, der Reiz des Triebbildes wieder ein Publikum finden, auf dass es wieder ein Bewusstsein für den europäischen Genrefilm gibt!

 

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