Architektur und Gesellschaft 2020

Mobilität Macht Raum

(Lotte Schreiber, Kuratorin)

Zuallererst war der Mensch Nomade. Erst mit der Entwicklung der Landwirtschaft wurde er sesshaft, erbaute Dörfer und Städte und tauschte Waren aus. Handelsrouten etablierten sich, neue Formen der Fortbewegung entstanden. Der Mensch hat damit die Oberfläche der Erde verändert und die Wasserschichten der Meere durcheinander gewirbelt. Durch alle Zeiten hindurch war die Fortbewegung von Personen und Dingen ein wesentlicher Bestandteil aller Kulturen. Mobilität, sowohl grenzüberschreitend als auch lokal, ist ein raumprägendes Phänomen und beruht auf unterschiedlichen Interessen und Akteuren. Dabei ist die Art der Mobilität einem ständigen Wandel ausgesetzt, der zu einer Fülle an Mobilitätsformen und -gründen geführt hat. Ist sie für die Einen Überlebensfrage, so ist sie für Andere schlicht ein Entkommen aus räumlicher Monotonie.

Vor diesem Hintergrund präsentiert Crossing Europe bereits zum elften Mal die Programmsektion Architektur und Gesellschaft in Kooperation mit dem afo architekturforum oberösterreich. Unter dem Titel „Mobilität Macht Raum“ nimmt sie Bezug auf die zeitgleich mit dem Filmfestival stattfindende Ausstellung zum Thema Mobilität im afo am Herbert-Bayer-Platz in Linz. Das diesjährige Filmprogramm versammelt vier Dokumentarfilme, die einen Blick auf die gesellschaftlichen und räumlichen Auswirkungen der stetig wachsenden und sich verändernden Mobilität werfen. Dabei werden Zusammenhänge von lokalen wie translokalen Interessen ebenso erörtert wie Fragen nach Machtverhältnissen, individueller Verantwortung und Gerechtigkeit.

So führt uns etwa der deutsche Regisseur Daniel Abma in seiner dokumentarischen Langzeitbeobachtung Autobahn die konkreten Auswirkungen des erhöhten Transitaufkommens auf sozialräumliche Inklusions- und Exklusionsvorgänge vor Augen. Durch die deutsche Kleinstadt Oeynhausen wälzt sich täglich eine immer dichter werdende LKW-Schlange und zerstört den Lebensraum in der Innenstadt. Doch auch die geplante Umfahrungsstraße bedroht Existenzen – eindrücklich stellt der Film individuelle Schicksale politischen Entscheidungsprozessen gegenüber und lässt die Betroffenen zu Wort kommen.

Wohlstand und Fortschritt versprechen sich die Bewohner*innen eines verträumten georgischen Bergdorfes vom Bau eines Eisenbahntunnels, durch den in Zukunft ein Hochgeschwindigkeitszug von China nach Europa – die neue Seidenstraße – fahren soll. Doch bald führen Sprach- und Kommunikationsprobleme zwischen georgischen und chinesischen Arbeitern zu heftigen Auseinandersetzungen und die Sorge wächst, als der Berg zu bröckeln beginnt. Davon erzählt das georgische Dokumentarfilmerduo Nino Orjonikidze und Vano Arsenishvili in A Tunnel.

Auch in der schwedischen Kleinstadt Kiruna setzen übergeordnete Interessen buchstäblich Berge in Bewegung. Als das unter der Stadt liegende Erzbergwerk einzustürzen droht, wird beschlossen die Stadt zu verlegen. Dieses Kuriosum bildet den Rahmen für Kiruna – překrásný nový svět der tschechisch-schwedischen Regisseurin Greta Stocklassa.

Ganz aktuell aus dem Jahr 2020 präsentiert das Programm den beeindruckenden Dokumentarfilm The Milky Way von Luigi D’Alife, der von einer Bergregion an der italienisch-französischen Grenze berichtet. Tagsüber ein beliebtes grenzüberschreitendes Skiresort, versuchen viele Flüchtende des Nachts über das Gebirge nach Frankreich zu gelangen. Eine offene Grenze als Sinnbild für Freiheit wird zur Todesfalle für die Nicht-Dazugehörigen.

 

Filme der Sektion: