Architektur und Gesellschaft 2013

Randlagen: Filmische Vermessungen von Orten im Abseits

(Lotte Schreiber, Kuratorin)

In 25 Jahren, so die wissenschaftlichen Prognosen, werden etwa zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben. Das schier grenzenlose Wachstum städtischer Agglomerationen entlang kapitalistischer Ströme mit all seinen Auswirkungen auf den O rganismus Stadt analysierte Saskia Sassen als eine der E rsten bereits 1994 in ihrer beachtenswerten Publikation „Cities in a World E conomy / Metropolen des Weltmarkts“. Sassen, Soziologin und Professorin für Stadtplanung an der Columbia University in New York, identifiziert darin drei verschiedenartige Standorttypen, die durch die globalen Wirtschaftsprozesse hervorgebracht werden: die Produktionszonen, die Tourismuszentren und die Finanzzentren. Daneben, so stellt sie fast beiläufig fest, werde die internationale Wachstumsdynamik an einer Unzahl von Groß- und Kleinstädten sowie Dörfern, völlig vorübergehen.

Die Auswirkungen der ökonomischen Globalisierung auf die Entwicklung der Provinz jenseits der „Global Cities“ sind heute hinlänglich bekannt. Dem Abzug von Kapital und Arbeitsplätzen folgt in der Regel eine starke Abwanderung junger Menschen aus vielen Regionen. Niedrige Geburtenraten und eine sich dadurch verändernde Altersstruktur beschleunigen den Schrumpfungsprozess und den damit einhergehenden zunehmenden Verfall nicht rentabler O rte. Immer mehr Gebäude stehen leer, vielerorts kommt es zum Zusammenbruch der Infrastruktur - der öffentliche Verkehr zieht sich zurück, Postämter und Banken schließen ihre Filialen, Schulen, Wirtshäuser und Greißlerläden sperren zu. Die ökonomische Krise der letzten Jahre verschärfte die Situation zunehmend.

Die diesjährige, in Kooperation mit dem afo architekturforum oberösterreich zusammengestellte Programmschiene „Architektur und Gesellschaft“ versammelt in diesem Jahr, unter dem bezeichnenden Titel RANDLAGEN, vier Dokumentarfilme und einen Kurzfilm, die von abgeschiedenen Dörfern, urbanen Grauzonen und spanischen Geisterstädten erzählen.

So porträtiert Sarah Gavrons Dokumentarfilm Village at the End of the World ein isoliertes Dorf an der Nordwestküste Grönlands, dessen gerade noch 59 E inwohner die Wiedereröffnung der geschlossenen Fischfabrik selbst in die Hand nehmen wollen. Die deutschen Dokumentarfilmer Leopold Grün und Dirk Uhlig zeichnen in Am Ende der Milchstrasse das Bild einer eingeschworenen Dorfgemeinschaft im ostdeutschen Niemandsland, die dem ökonomischem Druck und den harten Lebensbedingungen mit Humor und großem Talent zur Selbstorganisation trotzt. Warschau Frankenstein erzählt von der eigentümlichen Reise des deutschen Künstlers Boris Sieverts durch Polens Hauptstadt. Abseits touristischer Pfade sucht er die Brachländer und Hinterhöfe, auf die niemand stolz ist, und die doch etwas Wesenhaftes über eine Stadt erzählen. Casas para todos zeichnet eine Topografie der geplatzten Immobilienblase in Spanien, die sich landesweit in insgesamt 3,6 Millionen leerstehenden Wohneinheiten widerspiegelt. Neubauruinen und Geisterstädte überziehen das Land, doch längst beginnen Menschen und Natur mit ihrer Rückeroberung. E ine urbane Ruine steht auch im Mittelpunkt des achtminütigen Kurzfilms La Cité von Karina Nimmerfall, der über die Veränderlichkeit der Bedeutung von Raum reflektiert.

 

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