Tribute 2025: Silvia Luzi & Luca Bellino (IT)

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Aufbrechen der Machtverhältnisse

Die Italiener*innen Silvia Luzi und Luca Bellino erkunden an der Grenze zwischen Fiktion und Realität das Verhältnis zwischen Arbeiter*innen und Bossen, Vätern und Töchtern, Politiker*innen und dem Volk.

Ein tickendes Geräusch. Ähnlich einem Countdown, dem Automatismus einer Maschine. Im nächsten Moment eine wackelige Handkamera, die kurzen Eindrücke einer „Nacht-und-Nebel“-Aktion, in der vier Arbeiter sich in eine Fabrikhalle schleichen, um im Abbau befindliche Kräne zu besetzen.

Dann ein Blick auf den Mailänder Dom: vier Statuen, die von den Turmspitzen auf die mit Bauarbeiten überladene Stadt herabblicken. Die Symbolik, die Silvia Luzis und Luca Bellinos DELL'ARTE DELLA GUERRA / ON THE ART OF WAR aus dem Jahr 2012 vorausgeht, ist keine zufällige. Hier vermengt sich das Dokumentarische mit einer kunstvollen Erzählweise. „Eröffnungsszenen sind uns sehr wichtig. Wir stecken dort alles auf einmal rein“, erklärte Bellino in einem Interview mit Cineuropa.
Die vier Männer, Enzo, Luigi, Massimo und Fabio, kommen in Interviews zu Wort, vor den Toren streiken die Kamerad*innen. Gemeinsam will man die Schließung der Fabrik INNSE (Innocenti Sant’Eustacchio S.p.A.) verhindern, der letzten und größten Stahlfabrik in Mailand.

Der Kampf der arbeitenden Klasse, die Beziehung zwischen Menschen und Macht, ist ein bestimmendes Thema im Œuvre der beiden Italiener*innen. Sei es nun ein Fabrikchef, ein Politiker oder einfach nur ein Vater. Zu Beginn von DELL'ARTE DELLA GUERRA / ON THE ART OF WAR ist von Protesten gegen den venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez zu hören – eine Anspielung auf den ersten Dokumentarfilm des Duos, LA MINACCIA / THE THREAT (2008). Dieser befasst sich mit der „Bolivarischen Revolution“.
Stilistisch noch im klassisch Dokumentarischen verhaftet, arbeiten Luzi und Bellino dort mit Bildern des zivilen Lebens und dem Propaganda-TV des Präsidenten. Man sieht, wie die Bevölkerung illegale Wasserleitungen legt, Schusswechsel nehmen zu, auf die Lebensmittel wurde die neue Verfassung gedruckt. Über allem schwebt das Erdöl. Selbst die Sozialwohnungen heißen Petrocasa.

In DELL'ARTE DELLA GUERRA / ON THE ART OF WAR beginnt sich die für die beiden inzwischen typische Bildsprache herauszukristallisieren, der Hang, den visuellen Fokus schrittweise ins Detail zu verlegen. Weichere Linsen, zielgerichtete Blickwinkel. Auch der 2021 erschiene Kurzdokumentarfilm PRINCESS nutzt diese Stilmittel, um aus der Perspektive der Protagonistin zu erzählen. Diese ist Mitglied einer Filipino-Siedlung am Fluss Tiber in Rom, deren Quartiere niederbrannten; die Gemeinschaft hat sich in den Ruinen niedergelassen. In verschwommenen Bildern träumt Princess von ihrem früheren Zuhause. Nur manchmal, wenn Luzi und Bellino auf die Erwachsenen umschwenken, blitzt die nüchterne Realität der Existenz auf. Verkohlte, zahnige Ruinen, kein Dach über dem Kopf.
Traum, Fiktion und Realität. Geradezu spielerisch verschwimmen bei Luzi und Bellino die Grenzen dieser Sphären. So haben sie für  DELL'ARTE DELLA GUERRA / ON THE ART OF WAR gemeinsam mit den  gemeinsam mit den Arbeitern Teile des Skripts adaptiert. Das Gleiche gilt für ihren ersten, 2017 entstandenen Spielfilm IL CRATERE / CRATER, der mit seinem naturalistischen Stil dokumentarisch anmutet. Im Zentrum steht das reale Vater-Tochter-Duo Rosario und Sharon Caroccia. Die Figuren jedoch sind fiktive Versionen ihrer selbst, die sie bei Proben und Dreh mitentwickelt haben: Sharon ist eine talentierte Sängerin. Diese Gabe will ihr Vater, ein Jahrmarktverkäufer, in Geld umwandeln. Doch seine Methoden werden alsbald ausbeuterisch, die Tochter beginnt sich zu widersetzen. Das Geschehen entfaltet sich primär über Sharons Blickwinkel, das Umfeld entschwindet der Wahrnehmung. Rosario als Vater übernimmt die Dynamik des Bosses. Als einer von wenigen ergreift der Toningenieur im Studio Partei für Sharon: „Wir sind Menschen, keine Maschinen.“
Arbeiter*innen und Maschine kokettieren in Luzis und Bellinos Filmen, ob nun die vier INNSE-Männer oder Sharon, die wie eine Aufziehpuppe singen soll. Es liegt an ihnen, sich dem System zu widersetzen. „Wenn du fällst, wird dir niemand aufhelfen. Wir müssen uns selbst helfen“, meint auch Sharons Mutter. In Luzis und Bellinos zweitem Spielfilm, LUCE (2024), ist es eine namenlose Fließbandarbeiterin, brillant dargestellt von Marianna Fontana, die meint: „Ich muss meinen Lebensunterhalt verdienen, niemand hilft mir.“
Auch LUCE dreht sich um Machtverhältnisse mit Bossen und Vätern. Die Protagonistin arbeitet am Fließband einer Lederfabrik. Die Einsamkeit durchbricht sie, indem sie ein Telefon mittels Drohne über eine hohe, mit Stacheldraht bestückte Mauer schickt. Alsbald bekommt sie mysteriöse Anrufe eines Mannes (ist es der abwesende Vater?), wobei die Filmemacher*innen stets offenlassen, ob diese real sind oder Fantasie. Die Kamera ist dabei stets auf Fontanas expressives Gesicht gerichtet, der Hintergrund entrückt.

Fabrik und Arbeiter*innen sind wie in IL CRATERE / CRATER real, Luzi und Bellino haben auch hier mit ihnen gemeinsam das Drehbuch entwickelt. Und doch schlägt der Film neue Töne an: LUCE zeigt die Einsamkeit der Protagonistin, die aus der Monotonie ihres beruflichen und privaten Alltags erwächst. „Sie hat kein Leben“, meint eine Mitarbeiterin über die Hauptfigur.

Einsamkeit evozieren Luzi und Bellino auch im Musikvideo für das 2019 posthum erschienene Lied „Povero Tempo Nostro“ des berühmten und für seine politische Haltung bekannten Liedermachers Gianmaria Testa. „Arm diese Tage der dürftigen Menschheit, die die Tage vergehen lässt und sie abnutzt“, singt Testa, während sich ein Kahn mit einem Mädchen den Weg durch einen Bootsfriedhof bahnt, die Kamera wie immer stets an deren Blick ausgerichtet.
Der Blick, der stets verschleiert bleibt, ist jener der Bosse. Was spielt sich im Kopf von Hugo Chávez ab? „Er hat keine Ahnung, was er will, und die Leute leiden“, heißt es im Italo-Venezolanischen Club. Fast zwanzig Jahre später scheint eine echte Revolution in weiter Ferne. Das Gefühl, so Bellino, sei, dass man den Kampf bereits verloren habe. Die INNSE-Kranmänner bedauern ebenfalls, dass ihr Kampf nur als Versuch empfunden wurde, ihre Jobs zu retten. Dabei ging es ums Prinzip. „Wir wollten einfach zeigen, dass der Wille des Bosses nicht absolut ist.“